„Verstörend“ ist ein Wort, das die aktuelle weltpolitische Lage in Nah und Fern recht gut (oder eben schlecht) auf den Punkt bringt. Verstörend ist zugleich jenes Adjektiv, an das ich beim Werk des unlängst verstorbenen Filmemachers David Lynch als erstes denken muss.
Leider haben diese beiden Arten von verstörend wenig miteinander zu tun. Denn bei Lynch waren (und sind) verstörende, alptraumhafte Elemente stets gepaart mit Schönheit, ergreifender Melancholie und oft genug auch skurrilem Witz. Damit ist sein filmisches Schaffen denkbar weit vom oft trostlosen Alltag entfernt, ein perfekter Ort für Eskapismus – und damit derzeit wichtiger denn je. Umso trauriger stimmt daher die Nachricht von seinem Tod.
Dazu muss man Lynch sicher nicht idealisieren: War er ein schwieriger Mensch? Vermutlich. Ist er hin und wieder falsch abgebogen, etwa in seinem fast missionarischen Einsatz für die Transzendentale Meditation? Wahrscheinlich. War das Frauenbild in seinem Werk teils allzu „Damsel in distress“-lastig? Möglich.
Das alles ändert jedoch nichts am visionären Werk von einzigartiger Faszination, das er hinterlassen hat. Ein Element, das in seiner Bedeutung kaum zu überschätzen ist, war und ist dabei die Musik. Viele unvergessliche Momente im filmischen Lynch-Kosmos sind mit Musik verbunden, sowohl mit solcher, die eigens dafür geschaffen wurde – allen voran vom kongenialen Komponisten Angelo Badalamenti oder etwa von Julee Cruise –, als auch mit bereits existierenden Songs, Stichwort: „Blue Velvet“, das den gleichnamigen Film in der Version von Bobby Vinton abgründig-schön eröffnet, oder Chris Isaaks „Wicked Game“, das durch „Wild at Heart“ erst so richtig berühmt wurde.
Sogar den an sich lächerlichen teutonischen Bombast-Schock-Rrrockern von Rammstein verhalf David Lynch in „Lost Highway“ zu einem großen (Schock-)Moment, womit ihm zugleich das (fragwürdige) Verdienst zukommt, deren, nun ja, Weltkarriere kräftig angeschoben zu haben.
Aber David Lynch hat der Welt auch selbst originelle, im besten Sinne seltsame Musik hinterlassen, auf mehreren Soloalben und in Form zahlreicher Kooperationen – das 2024 gemeinsam mit der Musikerin und Schauspielerin Chrystabell veröffentlichte Album „Cellophane Memories“ ist diesbezüglich nun quasi Lynchs Abschiedsbrief.
Hier nun, chronologisch und thematisch ungeordnet, zehn persönliche Musik-Momente, die ich mit David Lynch verbinde:
1.) Peter Ivers – In Heaven (Lady in the Radiator Song)
In David Lynchs finsterem 1977er-Debüt „Eraserhead“ ist schon vieles angelegt, was sein Werk insgesamt ausmachen sollte – auch im Hinblick auf den Musikeinsatz. Wenn die seltsame Frau hinter dem Heizkörper die Zeile „In heaven everything is fine“ anstimmt (der Text stammt übrigens von Lynch selbst), dann klingt das, trotz oder gerade wegen der himmlischen Melodie, weniger nach einem paradiesischen Versprechen als nach einem höchst bedrohlichen Szenario.
2.) Au Revoir Simone – Lark
„Twin Peaks: The Return“ (2017), über 25 Jahre nach der epochalen Originalserie erschienen, brachte – wie von Lynch nicht anders zu erwarten – keinerlei kommerzielle Aufweichung. Im Gegenteil ist die dritte Staffel (noch) viel düsterer und experimenteller ausgefallen, bildet teilweise einen nur schwer zugänglichen und verdaulichen Brocken, fällt in einzelnen Sequenzen geradezu hermetisch aus. Der Humor der ersten beiden Staffeln ist nur noch in Spurenelementen aufzufinden (Dougie Jones!), fehlt aber eben nicht völlig. Dazu zählt auch der Running Gag, dass im Roadhouse, der eher grindigen Dorfkneipe von Twin Peaks, ein angesagter Alternative-Act nach dem anderen auftritt – was bei einer solchen Provinz-Bumsn natürlich äußerst unrealistisch wäre. Jedenfalls gehören die in Musikvideo-Länge präsentierten „Live“-Auftritte zu den Highlights der Staffel: Au Revoir Simone, die Chromatics, die Cactus Blossoms, Eddie Vedder, Julee Cruise – an berührenden bis magischen Momenten mangelt es nicht.
3.) Roy Orbison – In Dreams
Über die Rolle der Traumlogik (oft eher: Alptraumlogik) im Lynch-Kosmos wurde schon tausendfach geschrieben. Hier tritt sie bereits im Titel des (in „Blue Velvet“ verwendeten) Roy-Orbison-Klassikers in den Vordergrund. Wobei auch hier gilt: Den „candy-coloured clown they call the sandman“, der jede Nacht auf Zehenspitzen durchs Zimmer schleicht, sieht/hört man danach mit ganz anderen Augen und Ohren.
4.) David Lynch – Strange and Unproductive Thinking
Ein einziger langer, Trance-artiger Silbenschwall und Bewusstseinsstrom, vielleicht nicht nur von Transzendentaler Meditation inspiriert, sondern auch von David Lynchs Liebe zu Bob Dylan und dessen Wortkaskaden? Lynchs bizarrer Humor blitzt jedenfalls auch hier durch, wenn es mitten in den seltsamen Betrachtungen plötzlich ganz konkret um Zahnpflege geht:
„Bringing our discussion to the realm of practical considerations, it is interesting to note the possibilities of dental hygiene and the remarkable idea of a world free of tooth-decay and all other problems associated with the teeth, tongue, or oral cavity …“ Groß!
5.) Nina Simone – Sinnerman
Okay, von einem persönlichen Lynch-Musik-Moment kann man hier kaum sprechen, denn ich hatte völlig vergessen, dass Lynchs letzter Langfilm „Inland Empire“ von 2006 mit dieser bemerkenswerten „Sinnerman“-Version von Nina Simone endet. Wie ich mich generell, abgesehen von ein, zwei verstörenden Szenen, kaum noch an diesen eher abweisenden, schwer zugänglichen Film erinnere. Höchste Zeit für eine Neusichtung!
6.) Chrystabell and David Lynch – Sublime Eternal Love
Zugegeben, man kann Song und Video ereignisarm finden – als Vermächtnis (es handelt sich um den letzten Song auf dem letzten der drei gemeinsamen Alben von Chrystabell und David Lynch) ist die zum Glück gänzlich ironiefreie Vorstellung von „Sublime Eternal Love“ aber schön und tröstlich.
7.) Julee Cruise – Falling
Als ich das Original-„Twin Peaks“ zum ersten Mal gesehen habe (teils noch auf VHS oder in atemlos gespannter Runde im Keller-Kino meines alten Kumpels Peter H.), war das – wie für viele andere – ein echtes Erweckungserlebnis. So viel Grauen! So viel Schönheit! Spannung und Trauer, Horror und Humor mühelos vereint. Sogar (oder gerade) die cheesy Seifenoper-Elemente machten süchtig. Für mich ist dieses Gefühl ganz eng mit dem einzigartigen „Twin Peaks“-Titelthema von Angelo Badalamenti verbunden. Den Vorspann mit Sägewerk und Wasserfall habe ich kein einziges Mal geskipped (wäre auch ein Sakrileg!). Und zusammen mit der ätherischen Stimme von Julee Cruise, wie Badalamenti leider schon 2022 verstorben, ist das Ganze erst recht eine himmlisch schöne und zugleich tieftraurige, kurz: erhebende Erfahrung.
8.) Rebekah Del Rio’s – Llorando
Schon wieder Roy Orbison – und von Lynch schon wieder in seltsame, fremde Welten katapultiert. Orbisons „Crying“ rührt in der geisterhaft schönen, erschütternd emotionalen spanischsprachigen Version von Rebekah del Rio nicht nur die Charaktere von Naomi Watts und Laura (huch!) Harring in „Mulholland Drive“ zu Tränen.
Die beste Szene in Lynchs bestem Film (schlechten hat er ja keinen gemacht) – und die Kulmination der halluzinogenen, unwirklichen Atmosphäre, die wie ein feiner Schleier über „Mulholland Drive“ liegt. Auf dem selben betörend-verstörenden Niveau spielt höchstens noch Hitchcocks Meisterwerk „Vertigo“ (vor dem sich Lynch übrigens in „Twin Peaks“ u. a. mit dem Figurennamen Madeleine Ferguson verneigt). Und der Rest ist … silencio.
9.) Flying Lotus – Fire Is Coming feat. David Lynch
David Lynch erzählt zu futuristischen Soundscapes eine kleine Geschichte voll alltäglicher und zugleich zutiefst verstörender Bilder. Allein, wie er am Ende den titelgebenden Satz wiederholt, muss man einfach gehört haben. Und das Video kann erwartungsgemäß auch was. Uncanny, wie die Amis sagen.
10.) Angelo Badalamenti – Laura Palmer’s Theme
Im Soundtrack zu „Twin Peaks“ gibt es zahlreiche unvergessliche, mit ebensolchen Bildern für immer verschmolzene Musikmomente: das erwähnte Titelthema, „Audrey’s Dance“, „Dance of the dream man“ (alle von Badalamenti) oder auch „Just you and I – James‘ Song“, zu dem Madeleine/Laura, Donna und James mit Blicken alles sagen. Am großartigsten – vielleicht die Essenz im Werk von Lynch UND Badalamenti – ist aber das Laura-Palmer-Thema. Das Grauen, das im oder hinter dem Schönen liegt (und hoffentlich auch umgekehrt) lässt sich nicht besser vertonen als in diesem Aufeinandertreffen zwischen dunklen Drones und einem unfassbar schönen Pianomotiv.
Hier – wie auch in Lynchs Vorliebe für nostalgische Girl-Group-Klänge, frühen Rock ‘n‘ Roll oder die schon beispielhaft erwähnten balladesken Schmachtfetzen – schimmert ein Aspekt durch, der sich für mich wie ein roter Faden durch sein Werk zieht: eine Art Sehnsucht nach Naivität und Unschuld, nach einer Zeit, in der die Welt noch voller Geheimnisse war.
Lynch selbst hat stets betont, dass man nicht immer alles (z)erklären solle. Und so reizvoll es auch sein mag, in seinen rätselhaften Bild- und Klangwelten nach versteckten inhaltlichen Hinweisen und Easter Eggs zu suchen, nach Sinn im Surrealen – viel lohnender war und ist es doch, sich einfach auf die Stimmung, die pure Atmosphäre, einzulassen.
„The Answers to the Questions“ heißt ein Lied auf dem letzten Album von Lynch und Chrystabell. Aber genau darin, diese Antworten NICHT (oder zumindest nicht ausbuchstabiert) zu geben, lag die Faszination seines Gesamtwerks.
Den Dingen ihr Geheimnis lassen. In Zeiten, in denen man mit einem Klick das Gesamtwerk von KünstlerInnen spotifyen, unbekannte Songs sofort shazamisieren und sämtliche Details und Hintergründe zu jedem Song wikipedisieren kann (ganz zu schweigen von Myriaden an Foren, in denen jede noch so kleine Kleinigkeit seziert und ad nauseam diskutiert wird), wird das immer schwieriger. Aber auch immer wichtiger. Und von der utopisch-dystopischen Zukunft mit KI reden wir hier noch gar nicht.
Natürlich ist das alles bequem und es wäre sinnlos, es zu verteufeln. Aber die totale Verfügbarkeit nimmt der Musik und der Kunst insgesamt einfach viel von ihrem Reiz, profanisiert eine fast sakrale Aura.
Lasst den Dingen (und den Menschen) ihr Geheimnis! Diese Botschaft will zumindest ich persönlich von David Lynch und seinem Werk mitnehmen. RIP!