In der Gewalt der Wortgewalt

Konzertbericht: GEWALT und TEXTA, Bogenfest Innsbruck, 19. Mai 2024

Es war ein starkes Zeichen: Das alternative, subkulturelle Innsbruck ist noch am Leben, trotz schwieriger Zeiten, trotz in den letzten Jahren stetig schwindender Flächen – vom Hafen über den Weekender und die Junge Talstation (hier besteht noch Hoffnung) bis hin zu Clubs wie Dachsbau und Cubique. Schon zum dritten Mal schlug das Bogenfest, organisiert vom Innsbruck Marketing und dem Kulturverein Bögen (nebst zahlreichen Vereinen und Initiativen, die in den Viaduktbögen angesiedelt sind), voll ein, mit Tausenden BesucherInnen, entspannter Atmosphäre und einem ganz schön bunten Gesamtbild.


Copyright: Gewalt

„A mords Zuagang“, dachte man sich unwillkürlich – und war damit in Gedanken gleich bei Gewalt. Nämlich der gleichnamigen Berliner Band, die beim Bogenfest ihr erstes Livekonzert dieses Jahres bestritt – und schon beim Namen ein Statement setzt: Harmlos-bequem und gemütlich ist hier nichts.

Dafür bürgt ein Name: Patrick Wagner. Wer wie ich ein lebendes Relikt seliger, prägender Viva-2-Zeiten ist, muss sofort an Wagners seinerzeitige Band „Surrogat“ (1994 bis 2003) denken, die als einnehmend größenwahnsinnig und polarisierend im Gedächtnis blieb. So ließ sich Wagner auf dem finalen „Surrogat“-Album für die titelgebende, etwas andere Hardrock-Nummer „Hell in Hell“ vom legendären Boxer René Weller (im Vorjahr verstorben) zu denkwürdigen Zeilen inspirieren: „Wir sind immer oben, und wenn wir unten sind, ist unten oben.“ Das saß.

Zu Unten und Oben dürfte Patrick Wagner, während und nach der „Surrogat“-Ära, auch persönlich einige Erfahrungen gemacht haben, doch das interessiert hier nicht. Was umso mehr interessiert, ist Wagners aktuelle Band „Gewalt“, zuhause im weiten und wilden Feld zwischen Noiserock und Postpunk. „German Wut Wave“ lautet eine Eigendefinition – und die passt wie die Faust aufs Auge.

Im Trio mit Gitarristin Helen Henfling und Bassistin Jasmin Rilke präsentiert sich Wagner (Gesang, Gitarre) keineswegs altersmilde oder versöhnlich, im Gegenteil: In Zeiten, in denen auch alternative Musik, vor allem die gitarrenlastige, oft allzu vorhersehbar und stromlinienförmig daherkommt, geht es hier schön schroff, konfrontativ und kantig zur Sache. Das gilt für die Musik ebenso wie die von Wagner repetitiv, gnadenlos und parolenartig hinausgebellten Texte.

Man nehme nur die Single „Deutsch“, mit der „Gewalt“ erstmals in meinem kleinen Kosmos aufschlugen (Jahrescharts 2019) – eine heftige Attacke gegen (selbstge)rechte Politik, Borniertheit und dumpfen Nationalstolz, die es selbstverständlich auch in Innsbruck zu hören gab. Wobei Wagner in der Anmoderation klarstellte: „Und natürlich sei damit ihr gemeint.“

„Deutsch“ sendet, wenn auch musikalisch denkbar anders umgesetzt, eine ganz ähnliche Botschaft wie einst „Attwenger“ mit ihrem Volksmusik-Elektropunk-Agitprop-Klassiker „Kaklakariada“ (womit dann auch der Übergang zum Konzert von „Texta“ geschafft wäre – hurra, aber leider viel zu früh):

„Diese gaunzn patriotn, nationale idiotn / Bitte saz so guad und stöts eich in a schwimmbod aufn bodn / Und pinkelz bis zum hois eich olle gegnseitig au / Und daun tauchz nu amoi unta und daun nemz an schluck davau / Und spukz eich au damit solaung bis dass eich schlecht is von der kacke / Und wählen sie die nummer bitte neben ihrer landesflagge“ hieß es 2002 bei „Attwenger“, gefolgt von einer zeitlosen Abrechnung mit dem „Hausverstand“, mit dessen Hilfe die Kleinkarierten die ganze Welt „in sämtlichen Verzierungen“ erklären zu können glauben.

„Gewalt“ sagen so ziemlich dasselbe, wenn es heißt:
„denk dir deinen teil – du seelenloser, du kleinkarierter, du untertan. D-D-Deutsch!“

In wenigen, drastischen Zeilen kommt hier viel zur Sprache, von Aggression, die in Ängsten wurzelt („ich seh die angst in deinen augen, du fieser mob“) bis zum Zusammenhang zwischen Hass und Hässlichkeit. Letzteres bezieht sich klarerweise nicht auf körperliche Merkmale (dann wären bösartige Menschen ja leicht zu erkennen), sondern ist im Sinne des „hässlichen Deutschen“ / „hässlichen Österreichers“ zu verstehen.

Man sieht schon: Textlich werden bei „Gewalt“ keine Gefangenen gemacht. Es geht immer um uns selbst, es geht immer aufs Ganze. Bei der Anmoderation einer weiteren Nummer, „Guter Junge, böser Junge“, strich Wagner das in Innsbruck selbst hervor: Er habe einen Song schreiben wollen, der alles umfasst, worum es in seinem und unser aller Leben geht. Das Publikum möge nach der Darbietung selbst beurteilen, „ob das gelungen ist“.

Und tatsächlich wird hier in ultrareduzierten, einhämmernden Zeilen (fast) alles gesagt:
„Ich lebe / Du lebst / Wir leben / Das ist Leben“ oder „Ich arbeite / Du arbeitest / Wir arbeiten / Das ist Arbeit“.

Für Humor ist bei allem Existenzialismus auch noch Zeit („Ich bin langweilig / Du bist langweilig
Wir sind langweilig / Das ist Netflix“), ehe es gegen Ende um das Ende geht:
„Ich möchte nicht sterben / Du möchtest nicht sterben / Wir möchten nicht sterben / Das ist Angst vor dem Tod.“

Wagner und „Gewalt“ schonen weder sich selbst noch das Publikum. Da ist ein explizites Lied über den Wunsch nach einem „Jahrhundertfick“ (huch!) statt allzu viel Geschwätz schon fast eine Erleichterung, bevor es erst recht wieder ans Eingemachte geht – so wie in „Nichts in mir ist einer Liebe wert“, das Wagner laut eigener Aussage seinem Vater zu verdanken hat. Kafka, schau oba!

Die Musik dazu fällt ebenso gnadenlos aus: scharfkantig, krachig, mit markanten Laut-Leise-Kontrasten, die auch dem kürzlich viel zu früh verstorbenen Steve Albini ein grimmiges Lächeln aufs Gesicht gezaubert hätten. Bisweilen verspürte man fast Industrial-Vibes (samt elektronischer Eruptionen), wozu auch das Fehlen eines Schlagzeugs beiträgt: Als viertes Bandmitglied geben „Gewalt“ stattdessen „DM 1“ an – eine Drum-Machine.

Das Gute daran: Dieser harte, monotone Im-weitesten-Sinne-Rock kommt ohne männliche Mucker- und Macker-Attitüden (wie man in Deutschland sagen würde) aus, dank Gitarristin Helen Henfling, dem bewundernswert stoischen Gegenpol zum wild gestikulierenden Wagner, und der formidablen Jasmin Rilke am Bass.

Am Ende setzte es, neben kleinen Sticheleien („Klagenfurt, ihr seid großartig!“), erwartungsgemäß noch die tolle neue Single „Trans“: In der geht es nicht nur um Körperpolitik und Selbstermächtigung/Selbsterfindung („Ich hab mich selbst erschaffen, ich bin trans, ich bin trans“) – nein, das Ganze wird nochmals auf ein andere Ebene gehoben: „Ich bin trans / Ich bin trans / Ich bin transzendent.“

Fazit: Mit dem „Gewalt“-Konzert wurde in Innsbruck ein schwerer, dunkler Brocken, ein – im positiven Sinne – Fremdkörper ins Bühnenprogramm des Bogenfestes gesetzt, mitten hinein zwischen partytauglichere Klänge (Electronic Afro-Dub von „Tasheeno“, exaltierter Disco-Pop von Ankathie Koi). Schön, dass dafür Platz war! Oder, wie es Patrick Wagner am Ende selbst sagte: Besten Dank an David Prieth (PMK) für den Mut, die Band zum Bogenfest zu holen.

Damit ging es für mich ans andere Ende der Bogenmeile und an ein anderes Ende im musikalischen Spektrum, nämlich zu Texta aus Linz, Pionieren des österreichischen Mundart-Raps, die zum Abschluss auf der „Block Party Stage“ zu hören waren.

Leider habe ich Texta nie in ihrer vollen personellen Wucht erlebt, mit dem großartigen Skero und dem leider früh verstorbenen Energiebündel Huckey. Aber auch in kleinerer Besetzung gaben sich Flip, Laima und DJ Dan redlich Mühe, die zahlreich Versammelten mitzureißen. Österreichs Hip-Hop-Pioniere mögen inzwischen längst gesettelte Familienväter sein – der Flow und die Energie stimmen nach wie vor.

Außerdem spielen „Texta“ selbst augenzwinkernd und selbstironisch damit, nicht mehr die Jüngsten zu sein. Das tun sie auf Social Media (wo sie zum 20-Jahr-Jubiläum ihres Albums „So oder so“ schrieben: „Im Nachhinein lustig, dass wir damals schon den Track ‚Alt‘ mit Blumentopf gemacht haben, dabei waren wir da ja eh noch jung und knackig“) genauso, wie sie es beim Konzert in Innsbruck taten.

Man stehe für Old-School-Hip-Hop, meinte Flip, bei dem es zum Beispiel statt einem simplen Druck auf den Play-Button noch einen DJ gibt. Schließlich, so Flips kleine Geschichtsstunde, sei die DJ-Kultur vor 50 Jahren die Keimzelle für das gesamte HipHop-Universum gewesen. An anderer Stelle konnte er sich einen Seitenhieb auf die Generation der 16- bis 25-Jährigen und ihren angeblichen „Granny“-Lifestyle (früh ins Bett, früh aus dem Bett) nicht verkneifen: Hier müssten wohl die Eltern ihre Kinder dazu bringen, wieder um die Häuser respektive durch die Bogenmeile zu ziehen, meinte er mit breitem Grinsen.

Jedenfalls war deutlich zu spüren: Klassischer Hip-Hop ist nicht das Schlechteste. Was „Texta“ servierten, mag durchaus weit weg sein vom heutigen Rap-Game. Und sicher konnten nicht alle Jungen, die vor dem Konzert zu DJ-Klängen abfeierten und Tanz-Battles bejubelten, etwas mit den gut gelaunten Reimen in breitem Linzer Slang oder den feinen Scratches von DJ Dan anfangen.

Aber: Hip-Hop lebte immer von Kreativität und Sprachwitz – und beides hatten und haben „Texta“ einfach drauf. Ihr größtes Asset ist dabei die geschmeidige oberösterreichische Mundart („Geschmeidig“ hieß nicht umsonst bereits ihre erste EP aus dem Jahr 1995). Gut, dass sie vor rund 30 Jahren diese kulturelle Aneignung wagten!

Und so ging es in Innsbruck auf Zeitreise in eine Ära, in der Hip-Hop noch nicht die alles dominierende Jugend-/Musikkultur, sondern zumindest im deutschsprachigen Raum (und erst recht in Österreich!) noch frisch, ungewohnt und aufregend war.

Auch wenn das Set nicht frei von Tonproblemen war (gerade die Samples gerieten oft etwas leise), sorgte der Streifzug durch einen erstaunlich langen Katalog an kleineren und größeren Hits für gute Laune: Die Palette reichte von „Sprachbarrieren“ bis „Ois Ok Mama“, von „So oder so“ und „Mehr oder weniger“ bis, natürlich, „Hediwari“. Und dabei wären noch diverse weitere Kracher im Talon gewesen, man denke nur an „(so schnö kaust gor net) schaun“ mit den mächtigen „Attwenger“ (ja, da sind sie wieder!), das wunderbare „So könnt’s gehen„, „You’re driving me wild“ und mehr.

Auch der Tirol-Bezug kam übrigens nicht zu kurz: Bereits der Einzug der Linzer erfolgte zu den Klängen der augenzwinkernden Hymne „Aus Innsbruck“ von „IBK Tribe“, bei den Zwischenansagen gab es auch Reminiszenzen an Tiroler Rap-Pioniere wie „Total Chaos“ – und später einen kurzen Gastauftritt der Formation „AUTsiderz“ aus Zirl.

Das Publikum taute immer mehr auf und feierte die Genre-Legenden (die nächstes Jahr ein neues Album veröffentlichen werden) verdientermaßen ab, so dass am Ende des „Texta“-Auftritts beste Partystimmung herrschte. Schade nur, dass beim Bogenfest Punkt 22 Uhr die Verstärker abgedreht werden müssen – eine Zugabe war deshalb nicht möglich.

Abgesehen davon zeigt das Festival eines eindrucksvoll auf: Innsbrucks Subkulturen brauchen in erster Linie Platz und Infrastruktur – den Rest macht die Szene dann schon selbst. Diese Botschaft ist sicher auch bei der neuen Innsbrucker Dreierkoalition (deren RepräsentantInnen am Fest gesichtet wurden) angekommen …

Mr. Sandman, bring me a dream

Konzertbericht: SANDMAN’S CALLING, KuFa-Bar Kufstein, 9. Februar 2024

„Der HIT The Bassline-Blog ist nicht tot, er riecht nur komisch.“ Zugegeben, Frank Zappa hat das nicht über unseren komatösen Musikblog gesagt, sondern über das Genre Jazz. Und damit wäre die, ähem, elegante Überleitung auch schon geschafft: Ein Jazzabend im engeren Sinne war es zwar nicht, was da am Freitag in der erfreulich gut gefüllten KuFa-Bar zu Kufstein zu erleben war – aber sehr wohl ein Abend ganz im Zeichen der Improvisation. Und der hörte sich zum Glück nicht nach musikalischer Totenruhe an, sondern klang quicklebendig und energiegeladen.

Zu Besuch war der aus New York stammende Bassist und Oud-Virtuose Shanir Ezra Blumenkranz, in Kufstein ein gern gesehener und gehörter Gast, den Mike Litzko und sein verdienstvoller Kulturverein KlangFarben schon mehrfach nach Tirol lotsen konnten. Die wilden Shows mit dem Projekt Abraxas sorgen bei vielen, die dabei waren (ich leider nicht), noch immer für leuchtende Augen. Diesmal reiste Meister Blumenkranz aber in einer anderen Formation an – und gar nicht unbedingt als Frontmann, sondern als gleichberechtigter Teil eines großartigen Kollektivs.

Sandman’s Calling nennt sich die (aus einer jahrelangen Freundschaft hervorgegangene) Zusammenarbeit mit den kongenialen Schweizer Musikern Gregor Frei (Klarinette, Saxophon) und Matthias Künzli (Schlagwerk), seit Neuestem ergänzt um einen weiteren großartigen Drummer und Klangtüftler, Julian Sartorius.

Foto: Mike Litzko

In dieser Zusammensetzung veröffentlichten Sandman’s Calling dieser Tage das neue Album „Bern“ – und wären eigentlich auch in Kufstein als Quartett aufgetreten. Doch das böse C hatte etwas dagegen: Corona (ja, das gibt es leider immer noch) setzte Gregor Frei außer Gefecht. Und damit den eigentlichen Bandleader in diesem Projekt – oder, wie es Blumenkranz an diesem Abend augenzwinkernd ausdrückte, jenen Musiker, „who should be standing right there and tell us what to do“.

Repetitiv, rituell, hypnotisch

Doch Sandman’s Calling machten aus der Not eine Tugend, experimentierten und improvisierten sich einfach als Trio durch diesen Abend, durch Klangwelten, auf die schon der Name Sandman’s Calling einen ganz guten Hinweis gibt. Der Sand, um den es hier geht, ist allerdings nicht der, der Kindern vom Sandmännchen in die Augen gestreut wird, um Träume entstehen zu lassen – süße Träume wie bei den Chordettes, Albträume wie bei Metallica oder bizarre (Automaten-)Träume wie in Hoffmanns Erzählungen.

Nein, hier geht es eher um den Wüstensand im Sinne von Desert-Rock-Bands wie Tamikrest, Imarhan oder den von mir besonders bewunderten Tinariwen – minus den hypnotischen (Sub-)Sahara-Gesang, dafür ergänzt um Einflüsse von John Zorns Masada-Projekten bis hin zu Tom Waits, der von Sandman’s Calling ebenfalls als Einfluss angeführt wird.

Auf der Website der Gruppe ist auch von „Sandmandalas“ zu lesen – wobei das dann doch einen etwas zu sanften Eindruck von dieser Musik geben würde. Live ging es phasenweise nämlich durchaus laut und rau zur Sache. Was man aus dem Begriff „Mandala“ aber sehr wohl herauslesen kann, ist die hypnotische, minimalistische, fast rituelle Qualität dieser Musik, geprägt von repetitiven Patterns und ausufernder Improvisation, die sich mal dahin, mal dorthin treiben lässt. Wie vom Wüstenwind eben.

Live angetrieben wurde das Ganze von der kombinierten Wucht zweier herausragender Schlagwerker, links auf der Bühne Julian Sartorius, rechts davon Matthias Künzli, die gemeinsam einen gewaltigen, zwingenden Groove entfalteten, muskulös und zugleich extrem variabel, mit allerlei zusätzlichen Becken, Gongs und anderen Rhythmusinstrumenten, die ich nicht einmal namentlich kenne. Das klang dann mal nach Tribal-Rhythmen, mal fast nach der Präzision elektronischer Musik, auf alle Fälle mitreißend.

Foto: Mike Litzko

Shanir Ezra Blumenkranz bediente dazu abwechselnd den E-Bass, aus dem er mittels experimenteller Spieltechniken alle möglichen und unmöglichen Klangfarben hervorzauberte (von reduzierten Grooves über fast schon Metal-artige Riffs bis hin zu dissonanten Einsprengseln), und die Oud, eine orientalische Kurzhalslaute, die er meisterhaft beherrscht. Gerade in diesen Phasen, im Zusammenspiel mit dem furiosen Doppel-Schlagwerk, entstanden aus Reduktion und Repetition magische Momente – womit wir dann doch wieder beim Sand- bzw. Traummännlein wären.

Schön auch die ruhigen, lyrischen Passagen, die sich mit den dynamischeren abwechselten, wobei das Ganze stetig in- und auseinanderfloss. Pausen sind etwas für Loser! Immer wieder ließ sich Blumenkranz dabei selbst in die Rhythmen seiner Mitmusiker versinken, schien darüber zu meditieren, welchen Weg er als nächstes einschlagen sollte.

Lieber zu kurz als zu lang

Dass man sich hin und wieder den vierten Musiker Gregor Frei für zusätzliche Impulse gewünscht hätte – geschenkt. Denn immer dann wenn es, zumindest für das ungeübte Ohr, kurzzeitig etwas ziellos zu werden drohte (zu improvisierter Musik gehört wohl auch die eine oder andere Sackgasse) oder der Soundmix nicht auf Anhieb perfekt austariert war, kam garantiert einer der Drei mit der nächsten zündenden Idee um die Ecke.

Und so war es auch leicht zu verschmerzen, dass der Soundmix nicht immer sofort perfekt austariert war und ein paar wenige störende Besucher den nötigen Respekt für diese wunderbaren Musiker vermissen ließen. Aber okay, dass sich manche Leute nur für sich selbst und für ihre Smartphones interessieren, einfach nicht mehr zuhören wollen oder können, ist halt leider ein Zeichen der Zeit. Sorry, so viel Kulturpessimismus muss sein …

Der Großteil des Publikums tauchte jedoch bereitwillig in die Welt von Sandman’s Calling ein, applaudierte begeistert und holte die Band zumindest für eine besonders schöne Zugabe auf die Bühne zurück. Ein, zwei weitere Nummern hätten es übrigens schon noch sein dürfen – aber: Lieber ein Konzert ist zu kurz und lässt einen noch hungrig zurück, als wenn es zu lang wäre und man selbst schon übersättigt.

„For us it was special“, bilanzierte Blumenkranz diesen improvisiert-improvisierten Abend – und dem kann man sich auf alle Fälle anschließen. „Michael, I love you“, hieß es dann noch in Richtung des Veranstalters. Die Wertschätzung, die ein kleiner, mit Herzblut geführter Kulturverein den KünstlerInnen entgegenbringt, wird also durchaus erwidert … Zurecht!

So bleibt am Ende nur noch ein Appell, an mich selbst genauso wie an andere: Rausgehen! Den Allerwertesten hochkriegen! Livemusik genießen! Und lokale Kulturinitiativen unterstützen! Das ist heute wichtiger denn je.

Und da sind sie auch schon …

Brandneu, druckfrisch: meine Jahrescharts 2021!

  1. Mira Lu Kovacs – Stay a Little Longer (3:23)
  2. The War On Drugs – I Don’t Live Here Anymore (feat. Lucius) (5:27)
  3. Tocotronic – Ich tauche auf (feat. Soap&Skin) (4:18)
  4. Sam Fender – Seventeen Going Under (4:57)
  5. Jessie Ware – Please (4:32)
  6. Wolf Alice – The Last Man on Earth (4:21)
  7. Low – Days Like These (5:21)
  8. St. Vincent – Down (3:26)
  9. Fontaines D.C. – A Hero’s Death (Soulwax Remix) (4:29)
  10. Laura Mvula – Church Girl (3:45)
  11. Big Thief – Little Things (5:45)
  12. Wanda – Die Sterne von Alterlaa (3:14)
  13. Billie Eilish – Your Power (4:05)
  14. Christine And The Queens – Freedom (4:32)
  15. The Weather Station – Atlantic (3:53)
  16. Caroline Polachek – Bunny Is A Rider (3:14)
  17. Lana Del Rey – White Dress (5:33)
  18. Mavi Phoenix – Leaving (3:36)
  19. Cardi B – Up (2:36)
  20. Baby Queen – Raw Thoughts (3:25)
  21. Wolf Alice – Delicious Things (5:04)
  22. Django Django – Glowing In The Dark (2:59)
  23. Halsey – I am not a woman, I’m a god (2:56)
  24. My Morning Jacket – In Color (7:20)
  25. The Weather Station – Robber (5:20)
  26. Low – White Horses (5:04)
  27. Lil Nas X – INDUSTRY BABY (3:32)
  28. Mira Lu Kovacs – Stuck (3:32)
  29. Cari Cari – Belo Horizonte (3:44)
  30. Jan Delay – Kinginmeimding Feat. Summer Cem (3:08)
  31. Danger Dan – Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt (3:48)
  32. Bicep – Apricots (4:06)
  33. The Black Keys – Crawling Kingsnake (6:08)
  34. Japanese Breakfast – Be Sweet (3:15)
  35. Sam Fender – Aye (3:06)
  36. Halsey – Lilith (2:47)
  37. Olivia Rodrigo – good 4 u (2:58)
  38. Billie Eilish – NDA (3:15)
  39. Buntspecht – Paradies (5:18)
  40. The Antlers – Stubborn Man (5:50)
  41. Duran Duran – Anniversary (5:18)
  42. Totally Enormous Extinct Dinosaurs – A Dream I have (4:33)
  43. Spoon – The Hardest Cut (3:13)
  44. Django Django – Spirals (4:59)
  45. Tinashe – Bouncin (2:55)
  46. Caribou – You Can Do It (3:48)
  47. Mykki Blanco – Free Ride (3:34)
  48. Doss – Look (2:48)
  49. Sofia Kourtesis – La Perla (5:27)
  50. Elton John, Dua Lipa – Cold Heart (PNAU Remix) (3:22)
  51. Wiener Planquadrat – Stillstand (Club Version) (6:20)
  52. Big Red Machine – Phoenix (feat. Fleet Foxes & Anaïs Mitchell) (4:15)
  53. Elderbrook – Inner Light (Feat. Bob Moses) (4:17)
  54. Goat Girl – A-Men (5:33)
  55. Billie Eilish – Lost Cause (3:32)
  56. Japanese Breakfast – Posing in Bondage (4:04)
  57. Purple Disco Machine, Moss Kena, The Knocks – Fireworks (feat. Moss Kena & The Knocks) (3:20)
  58. Amyl and the Sniffers – Hertz (2:35)
  59. Róisín Murphy – Hardcore Jealousy (7:25)
  60. Rhye – Black Rain (3:51)
  61. Gaspard Augé – Force majeure (3:26)
  62. Wolf Alice – Smile (3:16)
  63. Hot Chip feat. Jarvis Cocker – Straight To The Morning (Myd Remix) (3:26)
  64. Rostam – 4Runner (3:49)
  65. 65 Purple Disco Machine & Sophie And The Giants – Hypnotized (3:15)
  66. Arlo Parks – Hurt (3:36)
  67. LoneLady – Former Things (5:21)
  68. Helado Negro – Gemini and Leo (4:27)
  69. Róisín Murphy – Kingdom Of Machines (6:28)
  70. Jake Bugg – Lost (3:28)
  71. Jungle – Romeo (featuring Bas) (2:46)
  72. IDLES – The Beachland Ballroom (4:00)
  73. Wet Leg – Wet Dream (2:20)
  74. Amen Dunes/Sleaford Mods – Feel Nothing (5:31)
  75. Snail Mail – Valentine (3:16)
  76. Viagra Boys – Girls & Boys (4:39)
  77. Celeste – Stop This Flame (3:29)
  78. Panda Bear – Never Ending Game (Panda Bear Remix) (3:23)
  79. Olivia Rodrigo – brutal (2:23)
  80. RUFUS DU SOL – Next to Me (5:14)
  81. Wet Leg – Chaise Longue (3:16)
  82. Hearts Hearts – The Fan (feat. Oska) (3:06)
  83. Arlo Parks – Hope (4:30)
  84. Peggy Gou – I Go (5:58)
  85. Jungle – Truth (2:51)
  86. Poolside – Sunrise Strategies (Moullinex Remix) (7:33)
  87. Kreisky – Kilometerweit Weizen (5:08)
  88. Yves Tumor – Jackie (2:56)
  89. Hovvdy – True Love (4:11)
  90. Dry Cleaning – Scratchcard Lanyard (4:06)
  91. Jan Delay – Spass Feat. Denyo (4:39)
  92. Marteria, Ätna, Yasha – Love, Peace & Happiness (3:33)
  93. black midi – John L (5:14)
  94. The Kid LAROI, Justin Bieber – STAY (2:21)
  95. Doss – Strawberry (3:29)
  96. River – Inappropriate (3:16)
  97. Yu Su – Xiu (4:25)
  98. Faye Webster – Cheers (3:15)
  99. Parquet Courts – Black Widow Spider (2:50)
  100. James Blake – Say What You Will (4:40)

Macht ja nix!

Hitze im Pool, Feuer im Archiv

Konzertbericht: SUDAN ARCHIVES & WIENER PLANQUADRAT, Poolbar-Festival Feldkirch, 14. August 2023:

Von Michael Domanig

Damit hier am Blog nach 16 Monaten (jessas!) endlich wieder ein Konzertbericht stattfindet, musste schon einiges zusammenkommen: einerseits ein paar freie Tage, um überhaupt Zeit für einen Konzertbesuch zu finden (ganz zu schweigen von der Zeit, dann auch darüber zu schreiben), andererseits ein wirklich bemerkenswerter Konzertabend. Anfang dieser Woche sind all diese Faktoren (ungefähr so selten wie der Halley’sche Komet) tatsächlich eingetreten. Und was soll man sagen: Es war ein erhebendes Gefühl!

Begonnen hat alles denkbar prosaisch, nämlich in der örtlichen Raikafiliale in Schruns, der, ähem, Perle des Montafons. Dort trat ich frühmorgens mit Rucksack und Wanderstöcken (also in typischer Tiroler Adjustierung) ein, um kurzentschlossen ein Ticket für das Konzert der gefeierten US-Künstlerin Sudan Archives zu erwerben – sozusagen als krönenden Abschluss und Kontrastprogramm zu einem herrlichen Wanderurlaub im Vorarlbergischen.

Am Handy habe ich keine Kreditkarte hinterlegt, also musste der Kartenkauf ganz altmodisch vonstatten gehen. Für die freundliche Dame hinterm Raikaschalter war es offenbar so ziemlich die erste Tickettransaktion überhaupt: Von der Poolbar schien sie schon einmal vage gehört zu haben, aber bei der Nennung von „Sudan Archives“ schob sie mir prompt einen leeren Zettel hin: „Magsch ma des nit ufschriba?“ Am Ende – nachdem auch das richtige Papier für den Ticketdrucker eingelegt war – klappte alles bestens. Und beim Konzert selbst konnte nach einem solchen Auftakt ohnehin nichts mehr schief gehen …

Das galt umso mehr, als sich für den Poolbar-Abend dann ultraspontan eine coole und bestens gelaunte Vorarlberger Runde zusammenfand – und das Konzert zudem (vermutlich wegen fix angesagter, letztlich aber nicht eingetretener Unwetter) kurzfristig von draußen nach drinnen verlegt wurde. Zwar ist die Open-Air-Bühne auf der Reichenfeldwiese (wo ich erst Ende Juli einem vergnüglichen Helge-Schneider-Abend beiwohnen durfte) wirklich idyllisch – und mit ihrer feinen Holzoptik ein echter Blickfang -, aber für diesen Konzertabend hier war die dichte, verschwitzte Clubatmosphäre im alten Hallenbad selbst das ideale Setting.

Denn eines war ab dem ersten schrägen Geigenton und den ersten pulsierenden Beats klar: Sudan Archives macht keine Gefangenen. Was die Sängerin, Songschreiberin, virtuose Violinistin und studierte Musikethnologin – bürgerlich Brittney Denise Parks, Ende zwanzig, Geburtsort Cincinnati, wohnhaft in L.A. – da so auftischt, ist ein krasser, im buchstäblichen Sinn unerhörter Mix unterschiedlichster Einflüsse: Zeitgenössischer R’n’B mit wunderbar leichtfüßigen Hooklines trifft auf schwere Hip-Hop-Grooves samt Monsterbass und elektronischen Störgeräuschen und das Ganze wiederum auf Sudan Archives‘ Alleinstellungsmerkmal, nämlich irre Violinklänge im weiten Feld zwischen Klassik, Avantgarde und irischem Folk (!).

 

Live servierte sie dieses wild schäumende Gebräu konsequent „in your face“, als superselbstbewusste, hypersexualisierte und – im positivsten Sinne –
aggressive Bühnenkunstfigur: Angetan mit Minischottenrock und ebenfalls in Karomuster gehaltenem Schottentop (mangels besserer Beschreibung), zog sie ihre Geigenbögen wie Pfeile aus einem Köcher (!) an ihrem Rücken – ein Signature Move, der jedes Mal für Szenenapplaus sorgte -, richtete die Geige schon mal wie eine Waffe auf einzelne Zuhörer und sprang gleich nach ein paar Songs von der Bühne, um sich unters Publikum zu mischen und dieses g’hörig (wie man im Ländle sagen würde) aufzumischen. Man hatte durchaus den Eindruck, dass einige Herren – vielleicht auch Damen – in den ersten Reihen von so viel Präsenz gleichermaßen angetan wie eingeschüchtert waren.

Spätestens am Ende des Konzerts, prophezeite Sudan Archives, würde das Publikum so richtig „lit“ sein – entzündet und berauscht und beides gleichzeitig. Und sie tat (nur begleitet von einem Musiker an E-Schlagzeug und Gitarre) wirklich alles dafür, ihre eigene Vorhersage wahrzumachen: mit intensivem Körpereinsatz auf der Bühne, ob sie sich nun am Boden wand, stöhnte und kreischte oder sich wie ein Derwisch mit der Violine im Kreis drehte (natürlich ohne ihr Spiel zu unterbrechen!); mit Geigensoli, die auch auf einem Folkpunk-Konzert nicht deplatziert gewirkt hätten (Sudan Archives erklärte ihr Teufelsgeigerinnen-Gen augenzwinkernd damit, dass sie laut DNA-Test „zu 5 % irisch“ sei); und natürlich mit den Club-Bangern ihrer beiden Alben „Natural Brown Prom Queen“ (2022) und „Athena“ (2019).

 

Und von diesen Bangern gibt es inzwischen eine ansehnliche Menge: Aktuelle Hits wie „Selfish Soul“, „Freakalizer“ oder „Milk Me“ knallten ebenso wie „Glorious“, „Confessions“ oder „Nont for Sale“, die alle fast schon als Klassiker durchgehen. Mehrere Zugaben zeugten davon, dass neben dem ausgelassenen Publikum auch die Künstlerin selber ziemlich viel Spaß hatte.

Hätte es dafür noch eines Beweises bedurft, hätte ihn Sudan Archives spätestens beim an- und abschließenden Auftritt des Duos Wiener Planquadrat erbracht: Da mischten sich die Künstlerin und ihr Begleitmusiker nämlich höchstselbst unter die Tanzwütigen im Pool – und gingen, sichtlich beeindruckt von der Qualität des Dargebotenen, am Dancefloor so was von amtlich ab (wie die Jugend von heute das vielleicht ausdrücken würde – oder auch nicht).

Und womit tat Sudan Archives das? Mit Recht! Denn als ob dieser Abend nicht schon toll genug gewesen wäre, setzte es nun auch noch ein absolut meisterliches DJ-Set, das sich von den späten Abendstunden bis in den frühen Morgen hinein erstreckte.

So einfach (scheinbar) und zwingend wie das „plq“-Logo vor dem DJ-Pult fiel auch der Sound des „Wiener Planquadrats“ aus: pulsierende Beats, zu denen man einfach nicht stillstehen konnte, Breaks und pünktlich einsetzende Bassgewitter an genau den richtigen Stellen, dazu hin und wieder hypnotisierend-kühle, meist deutschsprachige Vocals. Und auf den Moment, als mittendrin plötzlich die Hookline des berühmt-berüchtigten SNAP!-Knallers „Rhythm Is A Dancer“ auftauchte, dürfte sich das Wiener Planquadrat die ganze Nacht diebisch gefreut haben.

Apropos: Von der spürbaren Euphorie ließen sich auch die Musiker selbst – Michael Weiler und Maximilian Atteneder – immer wieder mitreißen. Wie die sprichwörtlichen Duracell-Hasen verausgabten sie sich am und neben dem DJ-Pult völlig, was natürlich auch wieder aufs Publikum übersprang. Und so folgte auf ein ohnehin schon ausgedehntes Mitternachts-Set noch ein zweites, das schier kein Ende zu nehmen schien.

Auch als es am Boden des einstigen Schwimmbeckens schon ganz klebrig vor verschüttetem Bier und vergossenem Schweiß war, machte das Planquadrat weiter, frei nach dem Motto: „Bis einer weint“ – sogar dann, als irgendwann nur noch eine Handvoll Unermüdlicher über den Dancefloor wankte. Und siehe da: Prompt füllte sich der Pool auch schon wieder. Fazit: Ein besseres Finale nach über fünf Wochen Poolbar-Festival lässt sich kaum denken.

 

Wobei, wer weiß? Vielleicht hat dieses Set ja noch immer nicht aufgehört, vielleicht geht die Party in der Poolbar noch immer weiter – und wird nie enden?
Für mich endete die Sause jedenfalls mit dem 3-Uhr-Nachtzug Richtung Bludenz und einem versäumten Hotelfrühstück am nächsten Morgen. Aber das ist … eine andere Geschichte.

PS: Großes DANKE an Conny Prock für die tollen Fotos und Videos von beiden Auftritten!

22 aus ’22 – SAGEN SIE NICHT JAHRESCHARTS ZU IHNEN!

Huch!, schon wieder ein Jahr weg … Ein Jahr, in dem sich weltpolitisch die Ereignisse überschlagen haben – während dieser Blog hier, positiv formuliert (ich glaub, „positiv“ darf man jetzt wieder sagen), eine Oase der Stille war. Weniger positiv formuliert: So wenig wie heuer ist hier überhaupt noch nie passiert und das will angesichts der ebenfalls nicht übertrieben produktiven Vorjahre schon was heißen.

Nicht einmal mein Bericht zum tollen Konzert der Düsseldorf Düsterboys in der „Bäckerei“ zu Innsbruck ist je online gegangen – auch weil ich, so viel sei zu meiner Entschuldigung gesagt, die versprochenen Fotos nie erhalten habe (pfui!). Und auch Jahrescharts-technisch schaut es düster aus – bis man sich einen einigermaßen repräsentativen Überblick über das abgelaufene Popjahr gemacht hat, ist das nächste schon wieder fast vorbei, seufz. Das traurige Los des Sorgfältigen. Ob ich die Jahrescharts 2022 (und, Asche auf mein Haupt, auch die Jahrescharts 2021) noch irgendwann nachreichen werde – wer weiß das schon?

Als kleinen Ersatz gibt es hier, ungewohnt pünktlich, 22 Songs aus dem Jahr ’22, die bei mir positiv hängen geblieben sind – in willkürlicher Reihenfolge und ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit oder Jahreschartscharakter. Trotzdem: Viel Vergnügen!

PANDA BEAR, SONIC BOOM – EDGE OF THE EDGE
Mit Panda Bear (dem mit Abstand talentiertesten „Viech“ des Animal Collective) und Sonic Boom (von den Drogenfressern Spacemen 3) haben sich die Richtigen gefunden. In diesen süßen psychedelischen Harmonienebeln geht man gerne verloren.

ANIMAL COLLECTIVE – WE GO BACK
Apropos: Animal Collective kommen mir manchmal vor wie ein Rudel Kinder, das man in einen Raum voller Klangerzeuger gesteckt hat, wo die viel zu munteren Kleinen dann alle verfügbaren Knöpfchen und Tasten drehen und drücken – und zwar alle gleichzeitig. Zu viele Einfälle in zu kurzer Zeit (dieser Befund gilt auch für andere akustische Zappelphilippe wie etwa Black Midi). Aber manchmal erwischt einen das Kollektiv dann doch genau auf dem richtigen Fuß. So wie mit diesem kleinen, großen Trip.

ALDOUS HARDING – LEATHERY WHIP
Seltsam, verspult, neben der Spur, zugleich unwiderstehlich eingängig – wie macht das die multitalentierte Neuseeländerin Aldous Harding bloß? Wenn die Lederpeitsche des Lebens so zischt wie dieser im besten Sinne schräge Ohrwurm, dann nur her damit!

DORA JAR – IT’S RANDOM
Ich sage mal: Wer Aldous Harding mag, mag auch Dora Jar. Genauso verschroben, wendungsreich und hochbegabt. Wie viele gute Ideen passen eigentlich in kaum zweieinhalb Minuten?

THE BURNING HELL – BIRDWATCHING
Vögel zu beobachten, gilt gemeinhin als entschleunigende Aktivität, bei der man einen langen Atem und viel Geduld braucht. Dieser Song über Vogelbeobachtung ist das genaue Gegenteil: schnell, kurz – und witzig: „While everybody else is busy / Polishing their coffins / We’ll be mixing Cosmopolitans / And Birdwatching.“

KOCHKRAFT DURCH KMA – INFLUENCER:INNEN HASSEN DIESEN TRICK … (mit Liser)
Der erste Song mit Gender-Doppelpunkt im Titel, den ich kenne. Und auch gleich der beste! Den Bandnamen kapiere ich zwar nicht, ebensowenig den Songtitel. Aber das Ding hat Punch, hat Kanten und fährt ein – alles Qualitäten, die in der aktuellen Musiklandschaft allzu dünn gesät sind. Und „Ein Leben lang / Hampelmann“ ist einfach ein guter Refrain. Note to self: Mehr Musik aus der BRD hören!

LOEWELOEWE – STOP LIFT STOP
Das „Verschwende deine Jugend/dein mittleres bis höheres Alter“-Lebensprinzip von Wanda bleibt richtig, wichtig und sympathisch; musikalisch bin ich aber spätestens seit diesem Ö3-Hit über den TV-Kommissar raus. Die schönste Wanda-Nummer 2022 stammte auch nicht von Wanda, sondern von ihrem heuer tragischerweise mit nur 32 Jahren nach schwerer Krankheit verstorbenen ehemaligen Keyboarder Christian Hummer und seinem Projekt Loeweloewe. Nonchalant gesungene Zeilen wie „Lass mich raus, ich hab noch so viel zu tun“ oder „Ich will endlich wieder Licht sehen“ bekommen im Nachhinein eine ganz andere, berührende Bedeutung.

YEAH YEAH YEAHS – SPITTING OFF THE EDGE OF THE WORLD (feat. Perfume Genius)
Das Comeback-Album der Nullerjahre-New-Yorker soll insgesamt nicht so berauschend sein, diese Vorabsingle zündet aber gleich beim ersten Hören – obwohl oder gerade weil es Karen O hier im Vergleich zu früher ruhiger und melancholischer angehen lässt.

LOS BITCHOS – LINDSAY GOES TO MYKONOS
Als „instrumental psychedelic sunshine cumbia“ bezeichnet die all-female-Band (muss man das heute eigentlich noch als Besonderheit betonen?) ihren Stil selbst. Das Wörtchen „Surfrock“ sollte man vielleicht noch ergänzen.

TOCOTRONIC – ICH TAUCHE AUF (feat. Soap&Skin)
Für das Pathos der mittleren bis späten Tocotronic ist man nicht jeden Tag gleich empfänglich – aber dieses Duett (um mal ein gefürchtetes Wort auf früheren Popjahrzehnten zu reaktivieren) mit der immer superen Soap&Skin ist, äh, immer super.

GORILLAZ – CRACKER ISLAND (feat. Thundercat)
Wahnsinnig spannend war das nicht, was die Gorillaz zuletzt so abgeliefert haben. Mal schauen, was das neue Album „Cracker Island“ (2023) bringt. Die erste, gleichnamige Single ist zumindest einmal vom Feinsten: Damon Albarn hat nicht verlernt, wie man „Banger“ buchstabiert. Und Thundercat gewährleistet an gscheidn Groove.

CARI CARI – ZDARLIGHT 1992
Hausmarke, was das stilsichere österreichische Duo hier serviert. Und damit sehr fein zu hören.

BENJAMIN CLEMENTINE – DELIGHTED
Der Brite mit ghanaischen Wurzeln gilt als launisches Genie – und denkt angeblich daran, nach einem weiteren Album 2023 die Musik an den Nagel zu hängen. Wäre schade um so viel Prätention, Exzentrizität und schiere Brillanz.

BUILT TO SPILL – UNDERSTOOD
„Strange“, „Conventional Wisdom“ – das sind glaub ich die einzigen beiden Songs von Built to Spill, die ich bislang kannte. Beide unaufdringlich großartig, passend für eine Band, die stets unter dem Hype-Radar unterwegs war. Zum Glück! Das aktuelle Album „When The Wind Forgets Your Name“ ist, nach dem ersten Durchhören zu schließen, eines der allerschönsten 2022. Und „Understood“ ein heißer Kandidat für die Top 10 der Jahrescharts, falls ich diese denn jemals … blabla, siehe oben.

SUDAN ARCHIVES – SELFISH SOUL
Ob das Beyoncé-Album wirklich so toll ist, wie alle tun, oder doch nur fett produzierter Multimillionärs-R’n’B? Keine Ahnung. Im Zweifelsfall lieber Sudan Archives hören, ist bestimmt die zehnmal spannendere Alternative.

MIDLAKE – MEANWHILE …
Meanwhile, in a secret room. Midlake sind auch so eine tolle Band der frühen Nullerjahre, die man schon ganz vergessen hatte. Album muss ich erst checken, aber das hier klingt schon mal so wohlig-harmonisch wie damals … anno 2005 (oh Gott!).

VOODOO JÜRGENS – ZUCKERBÄCKER
Ob Voodoos Lieder nun autobiographisch grundiert sind oder aber Geschichten aus einer versunkenen Wiener Halbwelt, die so eh nie existiert hat (oder beides), macht keinen Unterschied. Wer solche Melodien aus dem abgewetzten Ärmel schüttelt, hat so oder so gewonnen.

3RD SECRET – DEAD SEA
Angenehm aus der Zeit gefallen und weit jenseits all dessen, was heute trendet: So klingen die Lieder dieser Supergroup aus Grunge-Überlebenden (Soundgarden, Nirvana, Pearl Jam), angeführt von zwei Sängerinnen. Originalitätspreis gibt’s keinen, aber geht ja auch mal ohne.

ARAI – LITTLE STUPID BOY
Kennt ihr das auch? Lieder, bei denen euch ein Teil super gefällt, während euch andere Teile desselben Songs furchtbar auf die Nerven gehen? Bei mir ist es z.B. so mit The Weeknd und seinem Hit „Gasoline“: schöne melancholische Strophe, dann aber ein schmieriger Refrain, bei dem es mir die Haare aufstellt – und nicht von wegen Gänsehaut. „Little Stupid Boy“ von ARAI (über den ich nichts zu berichten weiß) ist das Gegenstück dazu: Die ungelenk sprechgesungene Strophe geht mir schon nach drei Sekunden auf den Zeiger, die ölige Bridge macht es nicht besser – aber dann folgt wie aus dem Nichts ein derart treffsicherer Refrain, dass man ihn tagelang nicht mehr aus dem Gehörgang kriegt. Wetten?

THE DÜSSELDORF DÜSTERBOYS – DAS ERSTE MAL
International Music sind die derzeit womöglich beste deutsche Band – und die Düsterboys mehr als nur ein Nebenprojekt dieser formidablen Formation. Beim Konzert in Innsbruck (siehe mein eingangs geäußertes Gejammer) war die Hipster-Hütte voll. Voll womit? Mit Recht. Am besten gefällt mir die fast schon sakral-kirchenmusikalische Aura dieser seltsamen, immer etwas neben der Spur dahineiernden Gesänge.

ALELA DIANE – HOWLING WIND
Aufs erste Durchhören hat mich das aktuelle Album der herausragenden Alternative-Folk-Songwriterin nicht wirklich umgehauen. Aber diese charaktervolle Stimme ist und bleibt eine Macht.

DEAD CROSS – REIGN OF ERROR
Ein Rausschmeißersong muss sein, wie ein Rausschmiss eben so ist: kurz und heftig. Mike Patton weiß, wie so was geht.

Sodala, das war’s fürs Erste. Ich wünsche euch allen ein möglichst fades und ereignisarmes Jahr 2023, auf dass wir alle miteinander wieder mehr zum Musikhören kommen mögen. Und was die unfinished Jahrescharts betrifft: Fortsetzung folgt. Oder doch nicht?

Tribaunquiz: Playlist 2022 – Michael Domanig

Wie immer gilt die herzliche Einladung, diese handverlesene Playlist und ihre innere Logik ausführlich zu ergründen – aber bitte erst NACH dem Pubquiz im Tribaun (17. August). Sonst möge euch der erbarmungslose Quizgott auf der Stelle mit seinem Blitz erschlagen (und nein, damit ist nicht das gleichnamige, sehr empfehlenswerte Quizformat des Österreichischen Quizverbandes gemeint)!

Musik, die für sich allein spricht

Festivalbericht: „The Art of Solo – 1. Internationales KlangFarben Musikfestival“,
29./30. April 2022, Kulturquartier Kufstein

Von Michael Domanig
(Fotos: Anton Horrer, Mike Litzko) 

„The Art of Solo“, die Kunst des Solierens, hat wohl jede/r von uns in den letzten rund 27 Monaten Pandemie in irgendeiner Form gepflegt. Nämlich in dem Sinn, dass wir wohl oder übel sehr viel mehr Zeit mit uns selbst verbringen mussten als gewohnt. Wir waren gewissermaßen unsere eigenen Alleinunterhalter – was auf Dauer freilich nur begrenzt Spaß macht. Und auch viele MusikerInnen sahen sich unfreiwillig auf sich selbst zurückgeworfen, mit meiner Meinung nach oft zweifelhaften Ergebnissen: Mir persönlich hingen die ganzen Solo-Akustik-Aufnahmen, Schlafzimmerproduktionen (gähn!) und Konzert-Livestreams schon zu den Ohren hinaus, lange bevor diese Welle ihren Höhepunkt erreicht hatte.

Livekonzerte funktionieren eben wirklich nur LIVE, alles andere (auch das von mir stets kritisch gesehene Format des Livealbums) bleibt ein hohler, flacher und letztlich unbefriedigender Ersatz. Und damit komme ich nun zu „The Art of Solo“ im eigentlichen Sinne, nämlich zum gleichnamigen ersten internationalen Musikfestival des verdienstvollen Kufsteiner Kulturvereins KlangFarben. Dieses Festival – das pandemiebedingt mehrfach abgesagt und umgeplant werden musste – war für mich nämlich die erste größere Dosis Livemusik seit vielen Monaten.

Und schon der erste Abend (ich entschied mich nach einer langen Arbeitswoche spontan zum Festivalbesuch und konnte von Tag eins nur noch die letzten beiden Konzerte mitnehmen) machte klar, dass man für dieses kleine, aber feine Festival die musikalischen Scheuklappen so rasch wie möglich ablegen musste. Die Bandbreite an diesem Wochenende war nämlich enorm: zwischen den Stilen, zwischen Mainstream-Tauglichkeit und Avantgarde. Kontraste und Brüche bildeten eher die Regel als die Ausnahme. Die Tatsache, dass die KünstlerInnen solo, also allein auf der Bühne standen, bildete im Grunde die einzige inhaltliche Klammer. Und selbst dieses Reinheitsgebot wurde nicht vollständig eingehalten. Doch dazu später mehr …

Mein – verspäteter – Festivaleinstieg fiel fordernd und sperrig aus: Der namhafte, aus New York City stammende Multiinstrumentalist Jamie Saft brachte, zottelbärtig und durchgehend mit FFP2-Schutzmaske, improvisierte Klänge auf Keyboard und Hammond-Orgel zu Gehör. „Jazzig-vertrackt und mit viel Spielwitz“, befand Markus Stegmayr in der Kronenzeitung treffend – für Nicht-Kenner des freien Jazz wie mich freilich starker Tobak. Laut Aussage von Saft fanden dabei z. B. Motive von John Coltrane, Thelonius Monk oder Joni Mitchell zusammen, nicht selten in einem einzigen Track – mangels einschlägiger Hörerfahrung kann ich das nur so wiedergeben. Auch wenn mir einiges in diesem Set zu hoch war (und der ansonsten das ganze Wochenende über brillante Soundmix stellenweise übersteuert wirkte, speziell in den Basslagen) machte dieser Auftakt Lust auf mehr. Nicht zuletzt, weil es (sträflicherweise!) mein erster Besuch im bereits 2017 eröffneten Kulturquartier Kufstein war, einer wirklich sehr schönen, angenehmen und einladenden Location.

Den eigentlichen Festivalauftakt hatte ich freilich versäumt – den hatte am Nachmittag ebenfalls Mr. Saft besorgt, allerdings nicht im Kulturquartier, sondern auf der Heldenorgel, der, wie jedes Kufsteiner Schulkind weiß, „größten Freiluftorgel der Welt“®. Am Spieltisch im Festungsneuhof hatte der Amerikaner bereits 2019 einmal die Register und Manuale bedient. Seine erneute Begegnung mit der Mammutorgel ging leider wieder ohne mein Beisein in Szene – ebenso das anschließende Konzert von „?Alos“ (Stefania Alos Pedretti) aus Italien, die ihren experimentell-radikalen „Queer-Pagan-Doom-Avant-Metal“ ins Kulturquartier brachte. Dem Vernehmen nach war das Black-Metal-Ritual „The Chaos Awakening“ alles andere als leichte, dafür umso spannendere Kost. Den stilistisch denkbar anders gelagerten Auftritt von Sophie Abraham, als „stilwildernde Cellistin“ (Ö1) u. a. vom „radio.string.quartet“ bekannt, schaffte ich zeitlich leider ebensowenig, auch nicht das Solo des vielseitigen Tirolers Jochen Hampl.


Jamie Saft: Eröffnungskonzert auf der Heldenorgel; Video: KlangFarben Kulturverein

Ein weiterer Programmpunkt an diesem Abend entfiel kurzfristig, zugleich eine Erinnerung daran, dass es auf der Welt noch Anderes und Wichtigeres als Kunst und Kultur gibt: Statt zu seiner elektrisch verstärkten Laute muss der ukrainische Bandura-Virtuose Ivan Tkalenko laut Veranstalter derzeit in seinem Heimatland zu den Waffen greifen.

Wir Privilegierten konnten derweil in Kufstein gemütlich weitere Livemusik genießen – namentlich das Abschlusskonzert des ersten Abends mit Anneke van Giersbergen aus den Niederlanden. Im Gegensatz zu einigen deklarierten „Fanboys“ mittleren Alters im Publikum war mir die bekannte Sängerin, Musikerin und ehemalige Frontfrau der Metal/Progressive Rock-Formation „The Gathering“ kein Begriff. Und während einige ihrer auf Wikipedia genannten Kooperationen (etwa mit „Napalm Death“ oder der isländischen Folkformation „Árstíðir“) durchaus neugierig machten, schreckten mich andere Referenzen in ihrem umfangreichen Portfolio, wie etwa die Bombast-Metaller „Within Temptation“, ab.

In der praktischen Konzertsituation zeigte sich dann: Auch wenn die Soundwelt von Anneke van Giersbergen wirklich nicht unbedingt die meine ist (und ich Akustikgitarrensets sonst eher langweilig finde) – dieser erstaunlichen Stimme, diesem Charisma und der rundum sympathischen, magnetischen Ausstrahlung kann man sich (live) kaum entziehen. Die reduzierten, folkigen Nummern – etwa „Lo and Behold“ oder „Love You Like I Love You“ von van Giersbergens jüngstem Soloalbum – gefielen mir dabei am besten. Dazu gab es einiges aus dem Backkatalog (auch eine „The Gathering“-Nummer) und schöne Coverversionen von Kate Bush („Running Up That Hill“) oder Chris Cornell (die Audioslave-Nummer „Like A Stone“). Souverän und bestens gelaunt zeigte sich die Musikerin auch im Austausch mit dem Publikum – vom augenzwinkernden Tipp an die Kufsteiner, doch den neuen Italiener nebenan aufzusuchen, bis zum Dialog mit einem Fan im Publikum, der ihr bei der Aussprache eines griechischsprachigen Songtitels assistierte: „In every concert there’s someone from Greece in the audience“, stellte die Künstlerin erstaunt lachend fest.

Apropos ZuhörerInnen: Leicht zugängliche, dennoch sehr qualitätvolle und ungewöhnliche Auftritte wie dieser wären garantiert auch bei einem deutlich größeren Publikum bestens angekommen – auch bei BesucherInnen, die mit den experimentelleren Programmpunkten vielleicht weniger anfangen können. Selbst wenn ich angesichts der noch immer nicht ganz überwundenen Pandemie nichts gegen den vielen Freiraum in den Stuhlreihen einzuwenden hatte: Die engagierten Veranstalter hätten sich ein definitiv ein volles Kulturquartier verdient gehabt!

Diejenigen, die vor Ort waren, bereuten es jedenfalls nicht. Das galt für mich persönlich auch und sogar noch mehr für den Samstag, den zweiten (und letzten) Festivaltag:

Diesmal fand ich mich pünktlich zum nachmittäglichen Start ein – und zunächst nur mit drei oder vier anderen Anwesenden im Foyer des Kulturquartiers wieder. Das Festivalmotto „The Art of Solo“ war zu diesem Zeitpunkt fast wörtlich zu nehmen … Zum Glück wuchs das Publikum bis zum Abend doch noch an – und zum Glück ließ sich auch der Auftakt-Künstler nicht verdrießen. Im Gegenteil: Der großartige Tobias Ennemoser vulgo „TubAffinity“ verbreitete von Beginn an gute Laune – und schräge, fast surreale Vibes: Ein bärtiger Mann mit Tuba, der dem Rieseninstrument groovige Töne entlockt, diese mit knackig-billigen Technobeats garniert und mit bizarren Megaphon-Durchsagen abschmeckt? Das wäre an sich schon ein Ereignis. Wenn sich das Ganze dann noch auf Rollschuhen (!) abspielt – die TubAffinity als ehemaliger Eishockeyspieler ebenso gut beherrscht wie sein Instrument – dann fühlt man sich endgültig in einem alternativ-anarchischen Zirkus angekommen. Echt „wyld“, wie es die Bühnenfigur selbst ausdrücken würde.

Schade, dass der gebürtige Tiroler, der heute in Wien lebt (und schon mit Kleinkunstpreisen dekoriert wurde), wetterbedingt nicht durch die Stadt, etwa hinunter zum Fischergries, fahren konnte: Bei vielen PassantInnen wäre dieses wunderbar schräge, trashige Gesamtkunstwerk bestimmt auf Begeisterung (oder zumindest Verwunderung) gestoßen. So musste TubAffinity sich aufs Kulturquartier beschränken, wo er den ganzen Abend den hochsympathisch-dadaistischen, halsbrecherisch durch die Location kreisenden Pausenclown gab. Eine echte Bereicherung. Und ein Künstler, den man gerne bald wieder mit einem vollständigen Konzert-/Kabarettabend in Tirol erleben würde.


TubAffinity im Foyer des Kulturquartiers Kufstein; Video: KlangFarben Kulturverein

Auch das österreichische Gitarrenduo Markus Schlesinger und Carina Linder konnte wegen des trüben Regenwetters (bei freiem Eintritt) nicht vor, sondern nur im Kulturquartier spielen. Kaffeepausen-bedingt habe ich diesen Auftritt leider versäumt …

Für harte Brüche war jedenfalls auch am zweiten Festivaltag gesorgt: Anja Thaler servierte stimmgewaltigen Piano-(Indie-)Pop mit expressivem Gesang und eigenwilligen deutschsprachigen Texten, darunter etwa die Nummer „Dornenkranz“, mit der sie schon beim FM4-Protestsongcontest vertreten war. Auch hier galt für mich: Nicht mein Sound – aber eine Künstlerin, die sich auf der Bühne so öffnet, etwa in Liedern über den Krebstod ihrer Mutter oder über das Heranwachsen von Kindern, hat allen Respekt verdient.

Danach folgte wahrscheinlich mein persönliches Festivalhighlight – der eindringliche, intensive Auftritt der schwedischen Künstlerin Klara Andersson alias Fågelle: In ihrem experimentellen Set, auf halbem Weg zwischen Song und Soundinstallation, zwischen Noise und Pop, fanden Geräuschfetzen, kantige E-Gitarrenriffs, spärliche, harsche Beats und hypnotische Gesangslinien (ausschließlich auf Schwedisch!) gefühlt zu einem einzigen langen Track zusammen. Dazu bediente sich Fågelle einer Technik, die mich bei SolokünstlerInnen fast immer fasziniert: Live-Loops, bei denen auf der Bühne selbst produzierte Soundfragmente direkt gesampelt und in Echtzeit zu einem Klangpuzzle zusammengesetzt werden.

Später am Abend sollte sich dann auch der – musikalisch freilich völlig anders gelagerte, ungleich poppigere – Multiinstrumentalist Adam Ben Ezra einer solchen Technik bedienen. Wo jedoch der israelische Kontrabass-Virtuose und Showman aus seinen virtuosen Loops leicht zugängliche, groovige Nummern baute, blieb es bei Fågelle radikal und fragmentarisch. Songstrukturen waren nur in Ansätzen auszumachen, auf Publikumsanbiederung, Gelegenheiten für Zwischenapplaus und ähnlichen Schnickschnack verzichtete die Künstlerin komplett. Trotzdem oder gerade deshalb entfaltete ihr Auftritt eine starke Sogwirkung – ob Andersson nun Effektpedale bediente, die eigene Stimme verfremdete, die E-Gitarre mit dem Geigenbogen bearbeitete oder sich eine seltsame Schlinge um Hals und Stimmbänder legte.

Mit ihrer konzentrierten Forschungsarbeit im Soundlabor stellt die Künstlerin zugleich (noch immer) dominante Genderzuschreibungen im Musikgeschäft bloß, in denen Musikerinnen allzu oft auf ihre Stimme reduziert werden. Dabei ist das fast schon wissenschaftlich-technisch anmutende Soundtüfteln, Knöpfchendrehen und „Frickeln“ (wie die Deutschen sagen) längst keine Männerdomäne mehr. Immer wieder schwirrten mir beim Auftritt Namen von kompromisslosen Klangforscherinnen wie Pharmakon, Eartheater, der Schwedin Christine Owman oder auch Björk durch den Kopf – doch letztlich klingt Fågelle viel zu eigenständig für derartige Vergleiche. Fazit: Ein packender, im besten Sinn fremdartiger Auftritt, der auch deutlich größeren Veranstaltungsreihen wie dem Donaufestival oder dem Heart of Noise alle Ehre machen würde.

Während Fågelle sehr gut in die FM4-Avantgardesendung „Im Sumpf“ passen würde, stellten sich die nächsten zwei, nein eigentlich drei Auftritte wieder ganz anders dar: Sie waren, um bei der Radiometapher zu bleiben, viel eher im Ö1-Universum angesiedelt – und das meine ich rundum positiv: Mit dem Akkordeonisten Christian Bakanic und der Cellistin Marie Spaemann präsentierten sich zwei herausragende österreichische InstrumentalistInnen, zunächst jeweils mit einem kürzeren Soloset, dann als Duo. Damit verstießen sie zwar irgendwie gegen die „Regeln“ des Festivals – aber auf hochwillkommene, eindrucksvolle Weise.

Als erster bewies Christian Bakanic, welche erstaunliche Klangvielfalt im Akkordeon steckt, wenn man es, so wie er, bis in die feinste Nuancen und Zwischentöne hinein im Griff hat. Die Kunst des Solierens begleitet Bakanic schon ein Leben lang: Bis zum 14. Lebensjahr habe er im Südburgenland vor allem Volksmusik gespielt, erzählte er zwischendurch, auf jeder Geburtstagsfeier des Großvaters und anderer Verwandter musizierte er solo. Später studierte er dann Klassisches Akkordeon an der Kunstuni Graz. Diese Biographie deutet schon an, wie virtuos und leichtfüßig sich der Musiker zwischen verschiedenen Stilen bewegt – in Kufstein irgendwo zwischen Klassik, Jazz („Caravan“ streute er als Verneigung vor Duke Ellington ein) und Tango Nuevo. Auf einer Cajón (Kistentrommel) sitzend, bewies er wie nebenbei auch wunderbares Rhythmusgefühl.

Mindestens genauso beeindruckend dann der Auftritt von Marie Spaemann: Wie Bakanic gehört die Cello-Virtuosin einer jüngeren Generation von MusikerInnen an, die Genregrenzen scheinbar mühelos überwinden. Und das auf atemberaubendem technischem Niveau: Da wurde das Cello in Perfektion gezupft, gestrichen oder rhythmisch beklopft, als ob das die leichteste Übung wäre, da führte Spaemann – die auch hervorragend singt – mal eben J. S. Bach mit einem hebräischen Volkslied und arabischer Liebeslyrik zusammen, da klangen Soul, Jazz und Klassik plötzlich wie Geschwister. Genau wie bei Bakanic geriet all dies zum Glück nie zu gediegen oder kunsthandwerklich, sondern blieb immer eigensinnig und originell. Das Ganze zelebrierte Spaemann auf der Bühne übrigens tiefenentspannt-barfuß. Chapeau!

Als kongeniales Duo frönten Spaemann und Bakanic danach der gemeinsamen Liebe zum Tango (der laut Spaemann „lebensbejahend und traurig zugleich“ ist) oder gaben mit dem neuen Lied „Split“ eine Nummer über die tiefen gesellschaftlichen Spaltungen der letzten Jahre zum Besten. Besser aufeinander eingespielt kann man kaum sein, die beiden MusikerInnen harmonierten perfekt – auch im buchstäblichen Sinne bei herrlichem Harmoniegesang.

Eigentlich unterstütze ich ideologisch ja den niederschwelligen DIY-Ansatz des Punk – aber wenn man sein Instrument so toll beherrscht, ist das schon etwas Großartiges. Als Nichtmusiker kam ich mir nach den heftig beklatschten Auftritten von Frau Spaemann und Herrn Bakanic jedenfalls wie ein plumper Grobmotoriker vor …

Erst recht galt das nach dem fulminanten Abschlusskonzert mit Adam Ben Ezra: Denn das Instrument, das dieser multitalentierte israelische Musiker NICHT beherrscht, muss erst noch erfunden werden. „Tuba kann ich noch nicht“, meinte er nach dem Auftritt augenzwinkernd zu mir – in lobender Anspielung auf den bereits erwähnten „TubAffinity“, der gerade ein letztes Mal seine Runden drehte.

Adam Ben Ezras Hauptinstrument ist der mächtige Kontrabass. Und es gibt wohl keine Spieltechnik, die er auf diesem schon rein optisch Ehrfurcht gebietenden Instrument noch nicht ausprobiert (und zur Meisterschaft gebracht) hat: von Pizzicato- und Slaptechnik über den Einsatz verschiedener Bögen bis zur virtuosen Verwendung des „double bass“ als Percussioninstrument. Die Besonderheit: All diese Sounds – und noch ganz viele andere – baut der Musiker per technisch perfektionierter Loop-Technik live auf der Bühne zu Songs zusammen. Er legt Schicht auf Schicht, bis man irgendwann glauben könnte, statt eines Solisten stünde eine vier-, fünf- oder siebenköpfige Band auf der Bühne.

Und das macht Adam Ben Ezra nicht nur mit den Kontrabass-Motiven so: Vokale Phrasierungen, Beats und Riffs, Melodiebögen aus dem Keyboard und dem Fender-Rhodes-Piano, sogar Flötentöne: All das türmte er in Kufstein aufeinander, selbstverständlich ohne falsche Rücksicht auf irgendwelche Genrebegrenzungen. Eine Fassung von „Don’t Worry, Be Happy“ hatte da genauso Platz wie Flamenco-Ausflüge oder ein besonders mitreißender Reggae – „from the middle east“. Und sogar wenn es zwischendurch manchmal „too much“ wurde, Spaß machte das Ganze immer. Am besten gefielen mir persönlich die Nummern mit hebräisch-nahöstlichen Text- oder Soundeinflüssen und (wie bei Spaemann und Bakanic) die besonders groovigen, perkussiven Momente. Dass dabei jedes Detail glasklar hörbar blieb, spricht auch für die Soundtechniker im Kulturquartier.

Dazu präsentierte sich Adam Ben Ezra (nur echt mit Hut!) als exaltierter Showman und Performer – kein Wunder, dass ihm auch auf YouTube die Herzen und Klicks zufliegen. Dass er in Kufstein komplett „übernachtig“ angekommen war (nachdem sein Flug gecancelt worden war und er gerade noch den letzten Platz in einem Ersatzflieger ergattern konnte), spürte man keine Sekunde lang. Das Publikum ließ sich bereitwillig mitreißen, klatschte heftig (und erfolgreich) um Zugabe. Und Adam Ben Ezra brachte es zum Abschluss dieses vielfältigen Konzerttages auf den Punkt: „It wasn’t a full house today, but it felt like a full house.“

Dass ein so anspruchsvolles und liebevoll zusammengestelltes Programm nicht mit höheren Zuschauerzahlen belohnt wurde, bleibt ein Wermutstropfen. Davon sollten sich aber weder der Kulturverein KlangFarben um den unermüdlichen Mike Litzko beirren lassen noch die Kufsteiner Kulturpolitik – die außergewöhnliche Veranstaltungen wie diese hoffentlich auch künftig kräftig unterstützen wird!

Eine Stimme, erschütternd wie ein Erdbeben

Da muss schon jemand sterben, damit es hier am Blog mal wieder ein Lebenszeichen gibt …
Mit Mark Lanegan ist ein Künstler für immer verstummt, den man nicht nur seiner Stimmlage wegen in eine Reihe mit dem gewaltigen Johnny Cash oder ähnlichen (Über-)Größen stellen kann. Von „Grabesstimme“ mag man, so passend es sein mag, bei einem so traurigen Anlass nicht mehr schreiben.
Hier ein ganz persönlicher, schnell zusammengeschusterter Mini-Abschied in Form von fünf Songs mit Lanegan-Beteiligung.

1.) Screaming Trees – All I Know
Knietief im Grunge, hebt sich durch pure Stimmgewalt und Wucht von der oft zähen zeitgenössischen Masse ab.

2.) Queens Of The Stone Age – Hanging Tree
Für mich eigentlich die erste Begegnung mit dem dunklen Stimmwunder Lanegan. Das Album („Songs for the deaf“) habe ich seinerzeit, als Zivi und danach, in Dauerrotation gehört, auch wegen dieses Songs. „Verdamp lang her“ würden BAP (nicht Mark Lanegan) dazu wohl sagen.

3.) Christine Owman – Familiar Act (feat. Mark Lanegan)
Deutlich weniger bekannt, mindestens so schön: Ein nachtschwarzes Duett mit der Schwedin Christine Owman (die ich in Innsbruck vor Jahren bei einem großartigen Konzert erleben durfte), die Lanegan und Owman wie legitime Nachfolger von Lee Hazlewood und Nancy Sinatra klingen lässt.

4.) Chelsea Wolfe and Mark Lanegan – Flatlands
Eigentlich wollte ich hier das ebenfalls berückend schöne „Who built the road“ posten, das Lanegan an der Seite von Isobell Campbell (ehemals of „Belle and Sebastian“ fame) einmal mehr im „Schöne und das Biest“-Modus zeigt. Dann bin ich aber spontan über diese Kollaboration mit Schattenkünstlerin Chelsea Wolfe gestolpert, die mindestens genauso atmosphärisch geraten ist. „It’s never coming back“ – das stimmt nachdenklich.

5.) Mark Lanegan – Emperor
Auch in meinen Jahrescharts 2017 zu finden. Lanegan wandelte in seiner stimmlichen Naturgewalt bisweilen hart am Rande zur Selbstparodie. Aber vielleicht war er gerade dann am besten. Denn mit so einer Stimme würde selbst das Telefonbuch (für Jüngere, die nicht wissen, was das ist: bitte hier nachschlagen) zum erhebenden Erlebnis. RIP!

PS: Auch wenn das jetzt irrelevant sein mag: Mark Lanegan war im Frühjahr 2020 schwer an Corona erkrankt, er lag wochenlang im Koma und hatte nur das Glück im Unglück, damals in Irland (und nicht etwa den USA mit ihrem dysfunktionalen Gesundheitssystem) gewesen zu sein. Nur wieder mal als kleiner Hinweis für alle, die in den letzten beiden Jahren eh nur einen substanzlosen Hype um eine harmlose Grippe sahen.